Wir müssen über Diagnostik reden
Mit dem Aufbau der inklusiven Bildung tut Deutschland sich schwer. Auch zehn Jahre nach Rechtsgültigkeit der UN-Behindertenrechtskonvention sind die Schüler*innenzahlen der Förderschulen kaum gesunken. Der auffälligste Nebeneffekt der Bemühungen um Inklusion ist ein anderer: Immer mehr Kindern wird ein „sonderpädagogischer Förderbedarf“ bescheinigt. Allein in Nordrhein-Westfalen, stellten Helen und Marcus Knauf jüngst in einer Studie heraus, ist die Zahl der Schüler*innen mit Förderbedarf um rund 30.000 gestiegen. Besonders eklatant ist die Zunahme in bestimmten Förderschwerpunkten: Die Zahl der Schüler*innen mit geistiger Behinderung ist demnach innerhalb von zehn Jahren um 30 Prozent gestiegen, die der Kinder und Jugendlichen mit emotionaler Behinderung sogar um immense 86 Prozent. Diese Entwicklung wirft zwei Fragen auf: Haben sich die Lebensbedingungen der Kinder verändert? Und: Können wir uns auf die Gutachten verlassen?
Die Forscher Thomas Barow (Universität Gothenburg, Schweden) und Daniel Östlund (Kristianstad Universität, Schweden) haben in einer neuen Studie die Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs in Nordrhein-Westfalen untersucht – vor allem, um herauszufinden, ob die verwendete Diagnostik zum dort begonnenen Aufbau inklusiver Bildung passt oder noch vom alten Sonderschul-Denken geprägt ist. Sie führten ausführliche Interviews mit Gutachter*innen und Schulrät*innen in fünf NRW-Schulämtern. Die Studie ist nicht repräsentativ, bietet aber interessante Einblicke. Barow und Östlund stellen nämlich fest, dass sich die Art der Diagnostik je nach Schulamt und je nach einzelnem*r Gutachter*in stark unterscheidet. Der Grund ist, dass es vom Land NRW dafür keine detaillierten Regeln gibt.
Die meisten befragten Gutachter*innen arbeiten an einer Förderschule und reisen zur allgemeinen Schule, um dort ein ihnen unbekanntes Kind zu begutachten. Sie untersuchen mit Hilfe von Lerntests das Lernverhalten des Kindes und beobachten es im Unterricht – aber oft nur ein oder zwei Schulstunden lang. In vielen Fällen gibt es bereits Förderberichte der Schule, die sie in ihr Gutachten einbeziehen können. Das Ergebnis bezeichnen die Gutachter*innen selbst eher als „Puzzle“ oder „Gesamtbild“ des Kindes.
Vom Puzzlespiel zum Intelligenztest
Ein zentrales Element der Gutachten ist die Durchführung eines Intelligenztests. Welches Testverfahren benutzt wird, ist in einigen Fällen vom Schulamt vorgeschrieben. Andere Schulämter stellen den Gutachter*innen die Wahl des Testinstruments völlig frei, obwohl es die ohnehin in ihrer Aussagefähigkeit sehr umstrittenen IQ-Tests auch noch in sehr unterschiedlicher Qualität gibt. Bei den Gutachter*innen und Schulämtern sind sehr große Unterschiede zu erkennen, was die Relevanz der IQ-Tests für die Feststellung des Förderbedarfs betrifft. In einigen Fällen gibt er den – scheinbar wissenschaftlich gesicherten – Ausschlag für die Festlegung des Förderschwerpunkts. In anderen Fällen wollen Gutachter*innen ihn „zur Absicherung des Gesamteindrucks“ einsetzen. In wieder anderen Fällen lehnen selbst Schulrät*innen die Testungen wegen ihrer Fehleranfälligkeit komplett ab und verwenden sie gar nicht.
Schon die Beschreibungen der befragten Gutachter*innen selbst zeigen deutlich, dass die Gutachten keinerlei wissenschaftlichen Standards genügen. Ob dem Kind ein sonderpädagogischer Förderbedarf zugeschrieben wird, hängt von vielen Zufällen ab, unter anderem von der Tagesform und Gemütslage des Kindes, von der Wahl der Testverfahren, von der Qualifikation der Gutachter*in, von ihrer Arbeitsauslastung und sogar von ihrer persönlicher Einschätzung, was „normal“ ist und wo ein sonderpädagogischer Förderbedarf beginnt.
"Sonderpädagogischer Förderbedarf" ist höchst dehnbar
Genauso bedeutsam erscheint den beiden Forschern jedoch, was in den Interviews keine Rolle spielte. Untersucht wird für die Gutachten offenbar nicht, ob die schulischen Schwierigkeiten des Kindes vielleicht kein Fall für die Sonderpädagogik sind, sondern umweltbedingt: als Folge etwa von schwierigen Lebensumständen oder schlechtem Unterricht. Auch die Meinung der Regelschullehrer*innen, die rechtlich offizielle Zweitgutachter*innen sind, wird kaum einbezogen. In der Praxis beschränkt sich deren Rolle offenbar darauf, das Gutachten zu unterschreiben. Die Sicht der Eltern auf die Lerneigenschaften ihres Kindes wird allenfalls abgefragt, hat aber offenbar keine Auswirkungen auf die Begutachtung. Die Kinder selbst schließlich werden gar nicht gefragt. Vorherrschend scheint die alte Sonderschul-Denke, die mit defizit-orientiertem Blick Kinder untersucht und mit einem modernen Bild von Behinderung als einer Wechselwirkung von individuellen Einschränkungen und einer potentiell behindernden Umwelt nichts zu tun hat.
Barow und Östlund bezeichnen im Fazit die Praxis der sonderpädagogischen Gutachten als „fragwürdig“ und raten, im Zuge der inklusiven Entwicklung den gesamten Prozess zu überdenken. Der offizielle Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs ist offenbar höchst dehnbar und tatsächlich kann dies eine Ursache für die stark steigende Zahl von Schüler*innen mit festgestelltem Förderbedarf sein. Selbst eine der für die Studie befragten Schulrät*innen sprach von grassierendem „Etikettierungswahn“.
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