Von nackten Zahlen und gefühlten Wahrheiten
Zehn Jahre nach Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung bricht die große Zeit der Bilanzen an. Wie weit sind wir mit der Inklusion in den Schulen – und wie hat die Inklusion unsere Schulen verändert?
Da ist zum Beispiel die jüngst veröffentlichte Studie des Zentrums für Lehrer*innenbildung (ZfL) der Uni Köln und der Deutschen Sporthochschule, deren Ergebnis einer Befragung von 574 Lehrer*innen in den Medien wie folgt zusammengefasst wird:
Die Inklusion sorge für mehr Lärm und weniger Disziplin im Unterricht.
Der Befund passt zu vielen anderen Befragungen der vergangenen Jahre. Seit die Schulpolitik mehr gemeinsames Lernen von Schüler*innen mit und ohne Behinderung ermöglicht, fühlen sich Lehrer*innen offenbar stärker belastet und häufiger überfordert, wird über Schwierigkeiten im Unterricht und vermehrte Verhaltensprobleme von Schüler*innen gesprochen. Der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, machte die Inklusion vor Monaten sogar für die gesunkenen Lernerfolge der Grundschüler in den vergangenen Jahren verantwortlich.
Foto: Andi Weiland, Gesellschaftsbilder.de
Es scheint, als ob die Inklusion eine immense Belastung für unsere Schulen sei. Doch lässt sich dies statistisch belegen?
Schauen wir in die Statistik: Offiziell ging in Deutschland im Jahr 2018 fast jedes zweite Kind oder jeder zweite Jugendliche mit Behinderung auf eine allgemeine Schule. Der „Inklusionsanteil“ beträgt 47,5 Prozent. Das klingt eindrucksvoll, und es klingt nach einer sehr großen Zahl von Schüler*innen mit Behinderung in den Schulen.
Eine genauere Analyse der Schulstatistik enthüllt aber eklatante Widersprüche. Schon die aktuellste Studie zur inklusiven Entwicklung, herausgegeben von der Bertelsmann Stiftung, überraschte mit dem Ergebnis, dass ein nennenswerter Fortschritt beim Besuch allgemeiner Schulen nur für Schüler*innen mit den Förderschwerpunkten Lernen und Sprache festgestellt werden kann.
Der Inklusionsanteil zeichnet ein falsches Bild
Noch deutlicher zeigt sich der Widerspruch zwischen der gefühlten Belastung durch Inklusion und den tatsächlichen Zahlen in der Untersuchung von Prof. Helen und Dr. Marcus Knauf. Sie haben die Daten der Bertelsmann-Stiftung, wo möglich, um neueste Zahlen der Kultusministerkonferenz ergänzt und, wo nötig, demografisch bereinigt. Das erstaunliche Ergebnis: Der Inklusionsanteil zeichnet ein falsches Bild von der Realität. Wenn fast die Hälfte der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf allgemeine Schulen besucht, müssten umgekehrt die Förderschulen auf die Hälfte ihrer Schüler*innenzahl geschrumpft sein. Das sind sie aber nicht. Der Rückgang der Schüler*innenzahlen an den Förderschulen beträgt lediglich 12,8 Prozent. Geradezu verblüffend: In Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz hat er sich im Gegenteil sogar erhöht. Hier besuchen anteilig mehr Schüler*innen die Förderschulen als vor Beginn der Inklusion. Betrachtet man allein diese Zahl, hat in den südwestlichen Bundesländern statistisch also gar keine Inklusion stattgefunden. Sie könnte somit auch keine Belastungen verursachen.
Manche Förderschulformen haben heute mehr Schüler*innen als vor zehn Jahren
Auch bundesweit haben bestimmte Förderschulformen heute selbst in absoluten Zahlen nicht weniger, sondern mehr Schüler*innen als vor dem Beginn der inklusiven Entwicklung – und das trotz allgemein gesunkener Schüler*innenzahlen. Im Jahr 2009 besuchten zum Beispiel in Deutschland rund 75.000 Schüler*innen mit geistiger Behinderung eine Förderschule. Heute sind es mit rund 79.000 um die 4.000 Schüler*innen mehr. An den Förderschulen für emotionale und soziale Entwicklung stiegen die Schüler*innenzahlen von 36.500 auf 39.800. Auch hier stellt sich die Frage: Wie können die Probleme mit Schüler*innen des Förderschwerpunkts emotionale Entwicklung an den allgemeinen Schulen so stark gewachsen sein, wenn sie doch mehr denn je die Förderschulen besuchen?
Unterm Strich zeigt uns die Schulstatistik: Das Ausmaß der bisher erreichten inklusiven Beschulung wird in der öffentlichen Debatte offenbar drastisch überschätzt.
Insgesamt haben die Förderschulen heute nur knapp 47.000 Schüler*innen weniger als im Jahr 2009 – und das auch nur wegen der Abwanderung der Schüler*innen mit „Lernbehinderung“, die in den anderen europäischen Ländern schon immer in allgemeinen Schulen unterrichtet werden, ohne dass dafür der Begriff der Inklusion verwendet würde.
Grund für hohen Inklusionsanteil ist ein „Etikettenschwindel“
Aber wie erklärt sich Deutschlands hoher „Inklusionsanteil“ von 47,5 Prozent, wenn doch die Zahl der Förderschüler*innen nur so wenig gesunken ist? Hier enthüllt die Statistik etwas Bemerkenswertes: In den Förderschulen lernen heute in ganz Deutschland 47.000 Schüler*innen weniger als im Jahre 2009. In den allgemeinen Schulen angekommen sind aber insgesamt 137.000 Schüler*innen mit Förderbedarf. Das sind statistisch gesehen rund 90.000 Schüler*innen zu viel. Über die Beschäftigung mit der Inklusion haben Pädagog*innen offenbar 90.000 Schüler*innen eine Behinderung attestiert, die noch im Jahre 2009 ohne jedes Etikett als Regelschüler*innen in den allgemeinen Schulen unterrichtet worden wären. Das heißt: Zwei Drittel der im Zuge der Inklusion an den allgemeinen Schulen gezählten „Förderschüler*innen“ sind immer schon dort gewesen – nur ohne Etikett.
„Inklusion“ als Chiffre für „Missstand“
Dass Schulen und Lehrer heute schwerere Arbeit leisten als noch vor acht Jahren, ist damit gar nicht in Frage gestellt. Mögliche Ursachen dafür sind vielfältig – von veränderten Lebensbedingungen der Kinder über höhere Leistungsanforderung bis zu schlechterer Ausstattung. Eine flächendeckend gestiegene Belastung durch die Inklusion kann jedoch nicht seriös behauptet werden. Das geben die Erkenntnisse der Statistik nicht her. Da es sich um einen statistischen Überblick handelt, schließt dies natürlich nicht aus, dass die Inklusion an einzelnen Schulen zur Herausforderung geworden ist. Aber dies kann nicht auf eine Mehrheit der Schulen zutreffen. Dafür ist in Sachen Inklusion einfach zu wenig passiert. Der Schluss liegt nahe, dass der Begriff „Inklusion“ zur beliebig füllbaren Hülle geworden ist, um Missstände an Schulen so zu verpacken, dass sie auf öffentliches Interesse stoßen. Das ist einfach. Aber die Zahlen zeigen: Es ist auch falsch.
Wir werfen einen neuen Blick auf Inklusion – entspannter und lösungsorientierter. Inspiriert dazu hat uns der neue Film DIE KINDER DER UTOPIE.
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