„Statistisch gesehen gibt es mich nicht“
Anne Gersdorff ist studierte Sozialarbeiterin, machte einen Master in "Leitung – Bildung – Diversität" und arbeitet als Bildungsbegleiterin und Integrationsberaterin.
Sie begleitet junge behinderte Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt ausgebildet werden und arbeiten. Außerdem berät sie Betriebe, die Menschen mit Behinderung Ausbildungs- oder Arbeitsplätze bieten.
Frau Gersdorff, Sie sind ehemalige Förderschülerin und haben zwei Hochschulabschlüsse - wie geht das?
Statistisch gesehen geht das eigentlich gar nicht. Es gibt uns ehemalige Förderschüler*innen und spätere Hochschulabsolvent*innen so selten, dass wir in keiner Studie und keiner Statistik auftauchen.
Gehen wir zurück an den Beginn Ihrer Bildungskarriere: Wie fing alles an?
Mit einem Jahr kam ich in eine Förder-Kita bei uns in der Gegend, die gerade neu eröffnet worden war. Als ich schulpflichtig wurde, wollte meine Mutter – selber Lehrerin – dass ich zusammen mit meinen Freund*innen aus der Nachbarschaft in die Regelschule bei uns um die Ecke eingeschult werde. Allerdings scheiterte dieser Plan ziemlich schnell am Widerstand der Schulleitung und an vier Stufen.
Vier Stufen?
Ja. Eigentlich war die Schule ein zweigeschossiger Flachbau und somit ziemlich barrierefrei. Im oberen Stock gab es ein paar Fachräume, die aber in den ersten Schuljahren gar nicht relevant waren. Es gab lediglich vier Stufen am Eingang, die man mit einer Rampe leicht hätte überwinden können. Aber die Schulleitung war strikt dagegen und machte meiner Mutter klar, dass sie mich nicht an dieser Schule aufnehmen werden. So blieb meinen Eltern nichts anderes übrig, als mich an einer Förderschule einschulen zu lassen. Diese Förderschule war in einem recht weit entfernten Stadtteil Berlins. Ich wurde morgens von einem Schulbus für behinderte Schüler*innen abgeholt und fuhr jeden Tag vor und nach der Schule eine Stunde durch die Gegend, weil an unterschiedlichsten Ecken Berlins Kinder eingesammelt werden mussten. Jeden Tag zwei Stunden Fahrtzeit – als kleines Grundschulkind.
Und wie erinnern Sie den Unterricht an jener Förderschule?
Der Unterricht war eigentlich wirklich gut. In meiner Klasse waren allerdings Kinder mit so extrem unterschiedlichen Förderbedarfen, dass die Lehrerin für alle 8 Schüler*innen spezielle Arbeitsbögen anfertigen musste. Die gute Unterrichtsqualität war das Werk unserer hochmotivierten und sehr engagierten Lehrerin. In der 5. Klasse gab es eine Neustrukturierung: Es entstand eine Klasse ausschließlich für körperbehinderte Schüler*innen. Der neue Lehrer war allerdings weniger engagiert – mit massiv negativen Auswirkungen auf die Unterrichtsqualität. Das war dann auch der Punkt, an dem meine Eltern und ich entschieden haben, dass ich die Schule verlassen werde. Und es gab da noch ein Problem.
Was für ein Problem?
Obwohl die Mehrheitsgesellschaft oft glaubt, dass Förderschüler*innen auf Förderschulen vor Mobbing der nichtbehinderten Kinder geschützt seien, habe ich da ganz andere Erfahrungen gemacht. Allerdings mit Schülern mit Förderbedarf – denn eine Behinderung bedeutet ja nicht automatisch, dass man einen guten Charakter hat. In unserer Klasse gab es immer wieder Mobbing an einer Mitschülerin, einer Freundin von mir. Und nachdem unsere Lehrerin wechselte, nahm das Mobbing weiter zu. Als ich merkte, dass der Lehrer nur zuschaute und nichts unternahm, versuchte ich einzuschreiten und stellte mich vehement auf die Seite meiner Mitschülerin. Dabei kam es schließlich zu einer verbalen Eskalation, bei der ich Worte verwendete, die der Lehrer inakzeptabel fand. Und schließlich gab es eine kritische Klassenkonferenz bezüglich meiner Wortwahl – aber das Mobbing wurde heruntergespielt und ging danach weiter. Das fühlte sich für mich sehr ungerecht an und so war ich doppelt froh über den Schulwechsel.
Und auf welche Schule sind Sie dann gewechselt?
Das war leider wieder ein großer Aufwand. Meine Mutter hatte von einer Sekundarschule (damals Gesamtschule) erfahren, die Inklusions- und Förderklassen anbot – eine Art Schulversuch. Im Auftrag des Bildungsministeriums Brandenburg entwickelte die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Jutta Schöler zusammen mit ihrer Doktorandin Katrin Düring das Konzept für eine Integrativ-Kooperativen Gesamtschule. Meine Mutter fand, das klang alles sehr gut. Allerdings war diese Schule nicht in meinem Wohnort Berlin, sondern in Brandenburg. Und das war ein echtes Problem für das Fahrdienstsystem, das nämlich nicht bundesländerübergreifend funktioniert. Aber nach einigem Ärger und Bibbern, ob es mit dieser Schule klappen würde, fand sich dann eine Fahrdienstlösung und ich kam auf die Regine-Hildebrandt-Gesamtschule in Birkenwerder. Irgendwie wussten sie dort wohl erst nicht so richtig, wie sie mich einschätzen sollen – und packten mich aufgrund meiner Förderschulgeschichte in die Förderklasse. Aber nach kurzer Zeit merkten die Lehrer, dass ich in der Förderklasse komplett unterfordert war, und ich wechselte in die Inklusionsklasse. Es war für mich wirklich ein Glück, dass das System solche Wechsel zuließ. Mittlerweile gibt es diese Trennung an dieser Schule nicht mehr, und alle Klassen sind inklusiv.
An dieser Schule habe ich dann schließlich mein Abitur gemacht. Ich habe noch heute einen guten Kontakt zur Schule und zu ehemaligen Mitschüler*innen. Von einigen weiß ich, dass sie mittlerweile gesellschaftspolitisch sehr engagiert sind.
Und dann studiert?
Ja, fast. Ich habe erst ein Praktikum gemacht und dann an der Alice-Salomon-Hochschule “Soziale Arbeit” studiert. Zunächst habe ich meinen Bachelor gemacht, dann 3 ½ Jahre gearbeitet und bin dann weiter ins Masterstudium. Ich habe schon während des Studiums immer mal wieder fachbezogen gearbeitet - und hatte deshalb schon vor meinem Master eine Job-Zusage.
Ich arbeite jetzt bei BIS, dem Netzwerk für betriebliche Integration und Sozialforschung e.V. als Bildungsbegleiterin und Integrationsberaterin. Außerdem bin ich im Vorstand von Wild:LACHS für alle e.V.
Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
Haben Sie einen Tipp an Förderschüler*innen, die an ihrer Förderschule nicht zufrieden sind und gerne an eine Regelschule wechseln würden?
Ich glaube ein einziger Tipp reicht leider nicht.
Zunächst braucht man für so eine Entscheidung mal eine ordentliche Portion Mut. Deshalb ist es wirklich wichtig, sich seine Pläne nicht durch die Zweifel anderer kaputt machen lassen. Das Schlimmste, was im Endeffekt passieren kann, ist wieder zurück auf eine Förderschule zu kommen. Das heißt, es kann gar nichts Schlimmes passieren: Im besten Fall werden die Dinge besser, wenn man es nicht schafft, bleibt alles beim Alten. Und selbst wenn man scheitert, lernt man aus Fehlern ja bekanntlich am Besten. Ansonsten sind gute Unterstützer*innen wichtig, die diesen Weg mit einem gehen.
Es kann nichts passieren: Im schlimmsten Fall bleibt alles beim Alten
Wenn man dann auf der gewünschten Regelschule angekommen ist, sollte man sich trauen auch mal neue, bislang ungewohnte Wege zu beschreiten. Ich habe anfangs z.B. eine Schulbegleitung abgelehnt. Ich wollte, dass meine Mitschüler*innen mir helfen: zum Beispiel Schulbücher aus meiner Tasche holen usw. Ich hatte die Vorstellung, ein ständig anwesender Erwachsener – also eine Schulbegleitung – würde stören.
Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass meine Mitschüler*innen manchmal doch davon genervt waren, mir immer wieder helfen zu müssen. So habe ich mir punktuell Unterstützung z.B. in Mathe oder Kunst gesucht. In diesen Fächern hatte ich dann eine Schulbegleitung.
Jede*r muss im Grunde für sich selbst eine gute Balance finden zwischen “für die eigenen Interessen einstehen”, “Bedürfnisse äußern und wahrnehmen” und “Kompromisse eingehen”.
Wir werfen einen neuen Blick auf Inklusion – entspannter und lösungsorientierter. Inspiriert dazu hat uns der neue Film DIE KINDER DER UTOPIE.
Sie wollen mitdiskutieren? Nach einem erfolgreichen bundesweiten Aktionsabend mit fast 20.000 Zuschauern ist der Film nun überall zu sehen: bei einer Veranstaltung in Ihrer Nähe, als Stream oder Download und jetzt auch auf DVD überall im Handel.
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