Exklusion ist Mobbing
Vor kurzem stellte das Kind beim Abendbrot die Größenverhältnisse klar: „Papa, groß!“ Dann zeigte es auf sich selbst: „Kasi? Kasi, klein.“ Nach einem imaginären Trommelwirbel in meinem Kopf schaute es mich an und sprach: „Mama? Kleines Mama.“ Danach grinste es mich breit an und schob sich eine Tomate in den Mund. So einfach ist das, wenn man zwei Jahre alt ist und gerade gelernt hat, was groß und klein bedeutet, ohne das bewerten zu müssen. Das Kind ist gerade 90 Zentimeter groß und damit nur sechs Zentimeter kleiner als ich bei meiner Einschulung – und ich wurde mit sieben Jahren eingeschult. Aber all das ist ihm egal. Papa ist groß, Mama ist klein, Kasi ist klein. So ist das eben.
Ninia und Sohn
Ich wünsche mir sehr, dass es sich diese Einstellung für seine Zukunft behalten kann. So bist du eben – und das ist ok. Ich wünsche mir aber vor allem, dass es überhaupt die Chance hat, divers aufzuwachsen und von Begegnungen mit anderen, ganz unterschiedlichen Menschen zu profitieren. Wenn wir über Inklusion im Bildungssystem sprechen, dann bedeutet das nicht nur, dass Menschen mit Behinderung ein Recht auf Inklusion haben – sondern auch Menschen ohne Behinderung. Inklusion ist ein Menschenrecht für alle. Das ist ein Punkt, den sich viele nicht bewusst machen. Und oft auch nicht bewusst machen wollen. Es gibt zahlreiche Argumente von Menschen mit und ohne Behinderung gegen Inklusion.
Auch Menschen ohne Behinderung haben ein Recht auf Inklusion
Angefangen mit der Sorge, dass das eigene Kind zurückstecken muss, wenn eine Klasse diverser wird. Ich finde das verständlich. Das eigene Kind ist immer das beste, schnellste und klügste von allen. Es soll sich also bitte in all dem auch frei entfalten können und entsprechend gefördert werden. Oft höre ich auch das Argument, Kinder mit Behinderung könnten auf Regelschulen gemobbt werden und wären davor in Förderschulen geschützt. Auf der anderen Seite seien die Lehrkräfte überfordert, wenn jetzt „plötzlich“ alles inklusiv sein soll. Ganz ehrlich? Das alles sind Dinge, die nichts mit Inklusion zu tun haben. Oder andersherum: Das alles sind Dinge, die auch ohne Inklusion und in Schulen, in denen nur Menschen ohne Behinderung Bildung erfahren dürfen, stattfinden.
Unser Bildungssystem – mit zu wenig Fachkräften, zu großen Klassenverbänden, zu wenig Pädagogik in der Ausbildung der Lehrkräfte, restaurierungsbedürftigen Gebäuden und dem immer gleichen Gedanken des Wettbewerbs – ist nicht darauf ausgelegt, allen Menschen freie Entfaltung und Förderung zukommen zu lassen. Egal, ob sie eine Behinderung haben oder nicht. Und, auch wenn diese Wahrheit weh tut: Kinder mobben und werden gemobbt. In allen Schulformen und Altersklassen. Das ist etwas, womit wir als Gesellschaft dringend offener umgehen müssen und viel mehr Unterstützung bieten und präventiv arbeiten müssen. Aber es ist nichts, wovor wir Menschen mit Behinderung durch Exklusion schützen können. Auch Exklusion ist Mobbing.
Mein Mann ist Lehrer. Ich weiß, wie viel er arbeitet. Welche Verantwortung er trägt. Und wie er darauf in seinem Studium vorbereitet wurde – aus meiner Sicht mehr schlecht als recht. Lehrkräfte müssen sehr viel leisten – aber sie stehen schon jetzt vor 28 bis 30 Individuen und müssen jede*n versuchen mitzunehmen. Diese Anforderung ist immer da, egal, wer dort auf den kleinen Stühlen sitzt und zuhört, Zettelchen schreibt oder heimlich auf dem Handy tippt.
Ein Bildungssystem, das ausschließt und nicht in der Lage ist, Menschenrechte umzusetzen, muss sich von Grund auf ändern
All diese Punkte sind wichtig. All diese Punkte müssen dringend bearbeitet und verbessert werden. All diese Punkte können wir aber nicht als Argumente gegen Inklusion gelten lassen. Sie sind Schwachpunkte eines kaputten Bildungssystems, das auf Leistung statt auf individuelle Förderung ausgelegt ist. Wenn wir als Gesellschaft unsere Verantwortung ernst nehmen wollen, dann muss sich ein Bildungssystem, das ausschließt und nicht in der Lage ist, Menschenrechte umzusetzen, von Grund auf ändern. Wenn ich als Mutter meine Verantwortung ernst nehme, dann lernt mein Kind nicht nur, dass seine Mutter klein und damit total in Ordnung ist. Sondern es lernt, dass Menschen individuell sind. Es profitiert von anderen, unterstützt und lässt sich unterstützen und es lernt, was soziale Kompetenz bedeutet. Ich kann mir für mein Kind nur wünschen, dass es sein Recht auf Inklusion wahrnehmen kann – ganz egal, ob es eine Behinderung hat oder nicht.
Wir werfen einen neuen Blick auf Inklusion – entspannter und lösungsorientierter. Inspiriert dazu hat uns der neue Film DIE KINDER DER UTOPIE.
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