Der Club der fremden Spezies: mit Vielfalt aufwachsen
Wenn Menschen mich kennenlernen, versuchen sie sich oft in komplizierten gymnastischen Übungen, um mit mir auf „Augenhöhe“ zu sein. Sie haben das Gefühl, so wie sie sind, sind sie gerade nicht richtig, weil sie in der Regel knapp einen halben Meter größer sind als ich und nicht wissen, wie sie sich jetzt zusammenklappen sollen, um auch optisch Gleichberechtigung herzustellen. „Bleib bitte einfach stehen“, versuche ich dann zu erklären. Bleibt doch bitte einfach stehen, so, wie es euch angenehm ist. So wie ihr gerne steht. Ich stehe ja auch. Ich habe keine Stelzen im Rucksack, die ich mir unter die Schuhe binden könnte, um auf „Augenhöhe“ zu sein, ich habe einen Hals, der meinen Blick nach oben richten kann und euer Hals kann euren Blick nach unten richten und dann blicken wir uns an und der Rest der Augenhöhe ist doch eh im Kopf.
Wenn Menschen unsicher in Begegnungen sind, heißt es oft, sie haben keine Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Als wären sie eine fremde Spezies, die im Alltag nicht vorkommt und deshalb stockt das Hirn kurz, wenn einem dann doch mal so jemand über den Weg läuft. Sie wollen alles richtig machen und gebärden sich dabei wie hilflose Clowns. Eigentlich ist es ganz einfach: Benehmt euch doch bitte einfach ganz normal. Und doch ist es ziemlich schwierig: Denn Menschen mit Behinderung sind für viele Menschen eine fremde Spezies. Weil Menschen mit Behinderung immer noch zum Großteil am Rand der Gesellschaft leben und auf Einladung auch mal „teilhaben“ dürfen, aber kein Teil sind. Weil die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland noch nicht gelungen ist. Weil wir immer noch darüber diskutieren, wie viel Inklusion zumutbar ist – als wäre sie eine Gefälligkeitsfrage und kein Menschenrecht.
Entgegen vieler Ratschläge von vermeintlichen Expert*innen schickten meine Eltern mich in einen regulären Kindergarten und in Regelschulen. Wie ich später von anderen lernen musste, hatte ich großes Glück. Ich wurde nicht als Problem gesehen, sondern als Kind – eines von vielen und eben ein bisschen kleiner als der Rest. Man empfing mich überall mit offenen Armen, kleinen Hockern und einem zweiten Satz Bücher, damit der Ranzen nicht so schwer war. Für meine Mitschüler*innen war meine Körpergröße eine Sache von vielen – viel wichtiger war in den Neunzigern, welche Plastikschnuller ich an meiner Halskette trug und ob ich schon die neue Folge „Sabrina“ gesehen hatte. Ich war Klassensprecherin, ich bediente das Pausenradio und ich moderierte das Sommerfest. Wir lebten Inklusion, ohne das Wort zu kennen.
Eine Gesellschaft, in der alle gleichberechtigt sind, beginnt schon bei den Kleinsten. Ja, ein Bildungssystem, das allen Menschen offensteht und in dem alle Menschen gefördert werden, kostet Geld, Motivation und Nerven. Aber: Von Inklusion profitieren alle – denn nur vier Prozent aller Behinderungen sind angeboren. Wer im Laufe seines Lebens plötzlich Mitglied in unserem Club der fremden Spezies wird, wird sich freuen, wenn er dann nicht auch an den Rand der Gesellschaft rückt. Und – um das nochmal nachdrücklich zu wiederholen – wir streiten hier nicht um Zugeständnisse, sondern um ein Menschenrecht!
Wenn man mit Vielfalt aufwächst, ist Vielfalt normal. Es lebe die diverse Normalität!
Foto oben: Steffen Baranski. Unten: Alex Reszczynski
Wir werfen einen neuen Blick auf Inklusion – entspannter und lösungsorientierter. Inspiriert dazu hat uns der neue Film DIE KINDER DER UTOPIE.
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